Ashbysches Gesetz der erforderlichen Varietät als Prinzip wirksamer Steuerung
Begriff und Definition
Das Ashbysche Gesetz der erforderlichen Varietät – auch bekannt als „Law of Requisite Variety“ – beschreibt ein fundamentales Prinzip aus der Kybernetik: Ein System kann ein anderes System nur dann effektiv steuern oder regulieren, wenn es mindestens ebenso viel Varietät besitzt wie das System, das es beeinflussen möchte. „Varietät“ meint dabei die Anzahl möglicher Verhaltensweisen, Reaktionen oder Zustände, die ein System einnehmen kann.
Übertragen auf NLP, Coaching oder Kommunikation bedeutet das: Die Person mit der größten Flexibilität – also der größten Anzahl an Verhaltens-, Denk- oder Wahrnehmungsoptionen – hat im Prozess meist die größte Einflussmöglichkeit. Flexibilität schlägt Starrheit. Wer mehr Handlungsalternativen besitzt, kann Situationen besser anpassen, steuern und verändern.
Ursprünge und theoretischer Hintergrund
Das Gesetz geht auf den britischen Kybernetiker William Ross Ashby zurück, der es in den 1950er-Jahren als Grundregel selbstregulierender Systeme formulierte. Ashby erforschte, wie biologische, technische und soziale Systeme Kontrolle ausüben und wie Stabilität in komplexen Umgebungen entstehen kann. Seine Arbeit gilt als ein Grundpfeiler der modernen System- und Regulationstheorie.
Im NLP wurde Ashbys Erkenntnis bereits früh aufgegriffen und auf menschliche Kommunikation, Veränderungsarbeit und Lernprozesse übertragen. Bandler und Grinder betrachteten das Gesetz als eine Art „Faustregel für Effektivität“: Je flexibler ein Mensch in seinem Verhalten, seiner Sprache, seiner Wahrnehmung oder seiner Strategie ist, desto erfolgreicher kann er seine Ziele erreichen und Herausforderungen meistern.
Anwendungsbeispiele
Coaching und Persönlichkeitsentwicklung
Ein Klient hat das Gefühl, festzustecken, weil er immer nur dieselben zwei Reaktionsmuster nutzt – Rückzug oder Überkontrolle. Durch das Erweitern seiner Handlungsoptionen (z. B. Perspektivwechsel, neue Kommunikationsweisen, State-Management) gewinnt er Varietät und wirkt flexibler und handlungsfähiger.
Therapie und Veränderungsarbeit
Ein starres inneres Muster – etwa ein automatisches Angstverhalten – wird in kleinere Teile zerlegt und mit neuen Wahlmöglichkeiten ergänzt. Das System „Inneres Erleben“ erhält mehr Varietät und reagiert weniger mechanisch.
Führung und Kommunikation
Führungskräfte, die nur einen einzigen Kommunikationsstil verwenden, stoßen schnell an Grenzen. Wer dagegen variabel kommuniziert – mal klar, mal empathisch, mal visionär, mal strukturierend – erreicht unterschiedliche Mitarbeitertypen deutlich besser.
Konfliktmanagement
Konflikte eskalieren oft, weil beide Parteien nur wenige Muster nutzen. Eine Person, die sich flexibel auf die Dynamik einstellen kann, eröffnet neue Gesprächswege und schafft Lösungen, die zuvor blockiert waren.
Einsatzbereiche
Das Ashbysche Gesetz findet Anwendung in Coaching, Therapie, NLP-Ausbildung, Führungstraining, Organisationsentwicklung, Kommunikation und systemischem Arbeiten. Es dient als Orientierungsregel: Um ein System – seien es Menschen, Teams oder innere Anteile – wirkungsvoll zu begleiten, braucht es Flexibilität, Variabilität und die Fähigkeit, Alternativen zu erzeugen. In der Lernpsychologie bildet das Gesetz die Grundlage dafür, warum vielfältige Lernstrategien bessere Ergebnisse erzeugen.
Methoden und Übungen
Erweitern der Verhaltensoptionen
Eine Person identifiziert eine herausfordernde Situation und generiert bewusst mindestens drei neue mögliche Reaktionen. Dadurch entsteht sofort mehr Varietät im System.
Perspektivwechsel
Eine Erfahrung wird aus der eigenen Perspektive, der Sicht einer neutralen Außenperson und der Position eines Beteiligten betrachtet. Diese dreifache Wahrnehmung erhöht Varietät im Denken und Fühlen.
Flexibilisierung von Submodalitäten
Innere Bilder, Klänge oder Gefühle werden verändert, um neue Bedeutungen und emotionale Reaktionen zu erzeugen. Das innere Erleben gewinnt dadurch zusätzliche Optionen.
Sprachliche Varietät
Kommunikation wird bewusster variabel gestaltet – etwa durch offene Fragen, Spiegeln, differenziertes Benennen von Gefühlen oder andere kommunikative Muster.
Synonyme oder verwandte Begriffe
- Gesetz der erforderlichen Varietät
- Requisite Variety
- Flexibilitätsprinzip
- Vielfältigkeit der Optionen
- Kybernetische Regel der Kontrolle
Wissenschaftlicher oder praktischer Nutzen
Praktischer Nutzen
Das Ashbysche Gesetz zeigt deutlich, dass Problemlösung weniger mit Willenskraft zu tun hat als mit Flexibilität. Wer mehr Wahlmöglichkeiten besitzt – emotional, kognitiv oder kommunikativ – kann Herausforderungen besser bewältigen. Für Coaches, Therapeuten und Führungskräfte bietet das Gesetz eine klare Orientierung: Erfolgreiche Begleitung entsteht durch das Erweitern der Möglichkeiten, nicht durch das Erzwingen bestimmter Ergebnisse.
Wissenschaftliche Bezüge
Das Gesetz wird in der Kybernetik, Systemtheorie, Biologie, Sozialpsychologie und Organisationsforschung genutzt. Es beschreibt Stabilität und Steuerung in komplexen Systemen und wird oft als „Grundgesetz der Kontrolle“ zitiert. Auch in der modernen Komplexitätsforschung spielt Varietät eine Schlüsselrolle: Systeme, die zu starr sind, zerbrechen – flexible Systeme bleiben anpassungsfähig.
Kritik oder Einschränkungen
Ein Kritikpunkt besteht darin, dass das Gesetz häufig vereinfacht dargestellt wird. Varietät allein ist nicht ausreichend – sie muss sinnvoll, passend und intelligent eingesetzt werden. Außerdem kann zu viel Varietät ohne klare Orientierung zu Überforderung oder Chaos führen. Deshalb gilt das Gesetz im NLP als Leitlinie, nicht als dogmatische Regel.
Ein weiterer Einwand betrifft die Übertragung auf komplexe menschliche Systeme: Nicht jede Situation erfordert maximale Flexibilität, manche brauchen Struktur oder Grenzen. Flexibilität und Stabilität ergänzen sich – das eine existiert nicht ohne das andere.
Literatur- und Quellenhinweise
Ashby, W. R. (1956). An Introduction to Cybernetics. Chapman & Hall.
Bateson, G. (1972). Steps to an Ecology of Mind. University of Chicago Press.
Bandler, R. & Grinder, J. (1979). Frogs into Princes. Real People Press.
Beer, S. (1972). Brain of the Firm. Allen Lane.
Metapher oder Analogie
Das Ashbysche Gesetz ähnelt der Funktionsweise eines Schlüsselsatzes: Eine einfache Tür braucht nur einen Schlüssel, aber ein komplexes Schloss erfordert mehr Formen und Variationen. Wer viele unterschiedliche Schlüssel besitzt, kann mehr Türen öffnen. Ebenso kann ein Mensch mit vielen Optionen mehr Situationen meistern.