Kinästhetisches Selbst (Kinesthetic Self)
Definition
Das kinästhetische Selbst ist ein Konzept aus dem erweiterten NLP, das die körperlich gespürte, emotionale Empfindung der eigenen Identität beschreibt. Es bezieht sich auf ein spezifisches Körpergefühl, meist im Bereich des Bauchs oder Zentrums (vergleichbar mit dem „Hara“ oder „Ki-Punkt“ im Aikido), das mit dem inneren Selbstbild verbunden ist.
Dieses Gefühl dient als somatische Rückmeldung für das persönliche Selbstwertgefühl. Es vermittelt, wie „richtig“, „kraftvoll“ oder „stimmig“ sich das eigene Selbstbild in einem bestimmten Moment anfühlt. Es ist damit ein wichtiger Bestandteil der emotionalen Selbstwahrnehmung und wird im NLP als eine Grundlage für stabile Identitätsarbeit genutzt.
Abgrenzung
Im Gegensatz zum rein kognitiven Selbstbild oder zur beobachtbaren Selbstinszenierung bezieht sich das kinästhetische Selbst auf die verkörperte, unmittelbar spürbare Dimension des Selbst.
Ursprung und Theoretischer Hintergrund
Das Konzept des kinästhetischen Selbst wurde unter anderem durch Stephen Gilligan (Hypnosetherapie, „somatic self“) und durch die Weiterentwicklungen im Integrativen NLP geprägt. Auch in der Arbeit von Connirae und Tamara Andreas sowie in der Core-Transformation kommt die Idee zum Ausdruck, dass Identität körperlich verankert ist.
Der Begriff knüpft außerdem an fernöstliche Körper- und Kampfkünste (z.B. Aikido, Tai Chi, Zen) an, in denen das Hara oder der Ki-Punkt als Zentrum der Persönlichkeit verstanden wird. Das NLP hat diese Vorstellung integriert, um ein körperlich fundiertes Identitätsmodell zu entwickeln.
Anwendungsbeispiele
- Coaching: Ein Coachee beschreibt ein inneres Bild seiner selbst. Der Coach fragt: „Wie fühlt sich das im Körper an?“ – das Empfinden im Bauchraum zeigt die emotionale Stimmigkeit des Selbstbilds.
- Therapie: Eine Klientin arbeitet mit einem belastenden Selbstbild. Durch Veränderung des inneren Bildes und gleichzeitige Beobachtung des Bauchgefühls erkennt sie, wann ein positiveres Selbstkonzept greift.
- Körperorientierte Veränderungsarbeit: Das kinästhetische Selbst dient als innerer Kompass, um Entscheidungen oder Visionen körperlich zu überprüfen: „Fühlt sich das wirklich wie ich an?“
- Auftrittstraining: Eine Rednerin entwickelt durch Visualisierung eines kraftvollen Selbstbilds und Fokussierung auf das kinästhetische Selbst mehr Präsenz und Sicherheit.
Einsatzbereiche
- Therapie: Behandlung von Identitätskonflikten, Selbstwertthemen, innerer Fragmentierung
- Coaching: Entwicklung eines authentischen Selbstbildes und stimmiger Selbstführung
- Führungskräftetraining: Entwicklung einer kongruenten, verkörperten Führungspersönlichkeit
- Persönlichkeitsentwicklung: Integration von Selbstwahrnehmung und Körpergefühl
- Konfliktlösung: Verbindung mit dem Selbstgefühl, um reaktive Muster zu regulieren
In NLP-Techniken wird das kinästhetische Selbst u. a. bei Zustandsarbeit, Timeline-Arbeit, Ankertechniken und Core Transformation einbezogen.
Methoden und Übungen
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Selbstbildarbeit mit Körperfokus:
- Der Klient visualisiert ein inneres Bild von sich selbst.
- Gleichzeitig richtet er die Aufmerksamkeit auf das Körperzentrum (Bauch, Solarplexus).
- Die Intensität, Weite, Leichtigkeit oder Spannung dieses Gefühls zeigt an, wie stimmig das Bild ist.
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Zentrierung auf den Ki-Punkt (aus dem Aikido inspiriert):
- Aufrechter Stand, Fokus auf das untere Dantian (Hara).
- Vorstellung des Selbstbilds im „Bauchraum“.
- Beobachtung: Wird das Gefühl kraftvoller oder schwächer beim Anblick des Selbstbilds?
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Veränderungsarbeit:
- Ein belastendes Selbstbild wird durch NLP-Interventionen verändert (z.B. Submodalitäten, Reframing).
- Das kinästhetische Selbst dient als Feedback-System, um zu spüren, wann eine Transformation gelungen ist.
Synonyme und Verwandte Begriffe
- Synonyme:
- Somatisches Selbst
- Verkörpertes Selbstgefühl
- Identitätsgefühl
- Verwandte Begriffe:
- Core State: Der Kernzustand, zu dem das kinästhetische Selbst führen kann
- Hara / Ki-Punkt: Ähnlich in östlichen Körpertraditionen
- Submodalitäten: Das kinästhetische Selbst kann durch kinästhetische Submodalitäten beschrieben werden
- Selbstbild / Selbstkonzept: Das mentale Gegenstück zum kinästhetischen Selbst
Abgrenzung
Im Gegensatz zu abstrakten Konzepten wie „Selbstbewusstsein“ ist das kinästhetische Selbst unmittelbar spürbar, körperlich erfahrbar und nicht verbal vermittelt.
Wissenschaftlicher oder praktischer Nutzen
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Praktischer Nutzen:
- Sofortige Rückmeldung über emotionale Stimmigkeit innerer Bilder
- Verbesserung der Selbstwahrnehmung durch körperliche Verankerung
- Erhöhung von Kongruenz zwischen Denken, Fühlen und Handeln
- Ressource für Selbstregulation, Authentizität und Entscheidungsfindung
- Ergänzung kognitiver Prozesse durch körperorientierte Perspektive
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Wissenschaftlich:
Das Konzept des kinästhetischen Selbst ist in der akademischen Psychologie wenig verbreitet, hat jedoch Parallelen in Ansätzen wie:
- Embodiment / Embodied Cognition (z.B. Lakoff, Damasio)
- Somatische Marker-Hypothese (Antonio Damasio)
- Focusing-Technik (Eugene Gendlin)
Diese Konzepte bestätigen, dass körperliche Empfindungen bei der Selbstwahrnehmung, Entscheidungsfindung und Sinngebung eine zentrale Rolle spielen.
Kritik oder Einschränkungen
- Subjektivität: Die Wahrnehmung des kinästhetischen Selbst ist individuell und kaum objektivierbar.
- Missverständnisse: Kann fälschlich mit „Bauchgefühl“ im Sinne von Intuition verwechselt werden – es geht nicht nur um Entscheidungsimpulse, sondern um Selbstbezug.
- Erlernbar, aber nicht sofort zugänglich: Manche Menschen haben wenig Zugang zu ihren Körperempfindungen.
- Wissenschaftlich wenig untersucht: Das Konzept ist primär im Kontext körperorientierter NLP- und Coaching-Modelle erprobt, aber nicht umfassend empirisch erforscht.
Literatur- und Quellenhinweise
- Andreas, C., & Andreas, T. (1994). Core Transformation: Reaching the Wellspring Within. Real People Press.
- Gilligan, S. (2004). The courage to love: Principles and practices of self-relations psychotherapy. W. W. Norton & Company.
- Hall, M. (1996). Meta-states: Managing the higher levels of your mind. Neuro-Semantics Publications.
- Damasio, A. (1994). Descartes’ error: Emotion, reason, and the human brain. Putnam.
- Gendlin, E. T. (1981). Focusing. Bantam Books.
- Lammers, C. H. (2004). Identitätsarbeit im NLP-Kontext: Die Entwicklung des Selbst als Spiegel der Kommunikation. Junfermann.
Metapher oder Analogie
Das innere Navi
Das kinästhetische Selbst ist wie ein eingebautes Navigationssystem: Wenn Du ein Ziel ansteuerst (Selbstbild, Entscheidung), gibt Dir das Körpergefühl im Zentrum Deines Körpers Rückmeldung, ob Du auf Kurs bist.
Die Klangschwingung einer Stimmgabel
Wenn ein inneres Selbstbild mit Deinem wahren Selbst übereinstimmt, beginnt Dein Körper zu „resonieren“ – wie eine Stimmgabel, die von einem passenden Ton erfasst wird. Das kinästhetische Selbst ist diese spürbare Resonanz.