Konstruktivismus (lat. constructio = Aufbau)

Definition im NLP-Kontext

Konstruktivismus ist ein erkenntnistheoretischer Sammelbegriff für verschiedene Denkrichtungen, die davon ausgehen, dass **„Wirklichkeit“ nicht objektiv gegeben, sondern vom Subjekt mitkonstruiert wird**. Im NLP bezeichnet Konstruktivismus die Grundannahme, dass jeder Mensch seine eigene Realität durch subjektive **Wahrnehmungsfilter** (wie Glaubenssätze, Werte, Sprache und Erfahrung) konstruiert.

NLP betrachtet Wahrnehmung und „Welt“ nicht als objektive Gegebenheiten, sondern als **individuell erzeugte innere Repräsentationen**, die veränderbar sind. In der Praxis bedeutet das: Nicht die Welt selbst wird verändert – sondern das Modell, das Menschen von ihr haben.

Ursprung und Theoretischer Hintergrund

Der Konstruktivismus hat seine Wurzeln in unterschiedlichen Disziplinen:

  • Philosophie: Vaihinger (Philosophie des Als Ob), Kant
  • Kybernetik und Systemtheorie: Gregory Bateson, Heinz von Foerster
  • Erkenntnistheorie: Ernst von Glasersfeld (radikaler Konstruktivismus), Humberto Maturana & Francisco Varela (autopoietische Systeme)
  • Linguistik & Semantik: Alfred Korzybski („The map is not the territory“)
  • Psychologie: George A. Kelly (Persönliche Konstrukttheorie)

Im NLP:

Richard Bandler und John Grinder griffen konstruktivistische Ideen explizit auf. Besonders der Einfluss von Korzybski, Vaihinger, Bateson und der Palo-Alto-Gruppe (Watzlawick, Satir, Jackson, Haley) ist deutlich.

Anwendungsbeispiele

  • Reframing: Eine neue Bedeutung für eine „äußere“ Situation schaffen, durch Veränderung des inneren Rahmens (Frame).
  • Belief Change: Veränderung einschränkender Glaubenssätze („Die Welt ist gefährlich“) durch neue Konstruktionen („Ich kann lernen, mit Unsicherheit umzugehen“).
  • Submodalitätenarbeit: Subjektive Repräsentationen (z.B. ein inneres Bild) verändern – und damit die Bedeutung.
  • Timeline-Arbeit: Die Konstruktion von Vergangenheit/Zukunft wird überarbeitet, z.B. durch Neuordnung zeitlicher Abfolgen.

Einsatzbereiche

  • Therapie: Behandlung problematischer Konstruktionen von Identität, Realität, Trauma
  • Coaching: Veränderung begrenzender Modelle von Selbst, Zielen, Fähigkeiten
  • Führungskräftetraining: Entwicklung von Realitätsmodellen, die Mitarbeiter motivieren
  • Persönlichkeitsentwicklung: Aufbau flexibler Selbstkonstruktionen
  • Konfliktlösung: Verstehen von Wirklichkeitskonstruktionen anderer Menschen

Konstruktivismus ist das theoretische Fundament vieler NLP-Techniken: Reframing, Ankerarbeit, Meta-Modell und Milton-Modell beruhen alle auf der Annahme einer „konstruierten Wirklichkeit“.

Methoden und Übungen

  • Reframing (Kontext- und Bedeutungsreframing)
  • Meta-Modell der Sprache: Entlarven von Generalisierungen, Tilgungen, Verzerrungen in Sprachmustern
  • Milton-Modell: Konstruktive Ambiguität und Suggestion erzeugen neue innere Realitäten
  • Submodalitätenarbeit: Visuelle/Auditive/Kinästhetische Codierung als Konstruktionserfahrung verändern
  • Visual Squash / Teile-Integration: Integration widersprüchlicher innerer Anteile

Praxisbeispiel: Subjektivität erfahren lernen

„Zeichne das Bild, das Du im Kopf hast, wenn Du an ‚Zukunft‘ denkst. Beschreibe, wie es aussieht – Farbe, Größe, Entfernung. Dann verändere die Submodalitäten (z.B. bring das Bild näher heran). Was verändert sich im Gefühl?“

Ziel: Einsicht, dass die „Realität“ unserer Zukunft nicht fix ist, sondern gestaltbar.

Synonyme und Verwandte Begriffe

Synonyme:

  • Subjektivismus (in abgeschwächter Form)
  • Wirklichkeitskonstruktion
  • Welterzeugung

Verwandte Begriffe:

  • Wahrnehmungsfilter
  • Reframing
  • Weltmodell
  • Glaubenssätze (Beliefs)
  • Metaprogramme
  • „Die Landkarte ist nicht das Gebiet“ (Korzybski)

Abgrenzung:

Im Unterschied zu Realismus geht der Konstruktivismus davon aus, dass Erkenntnis keine objektive „Abbildung“ der Welt ist, sondern eine Konstruktion.

Wissenschaftlicher oder praktischer Nutzen

Praktischer Nutzen:

  • Fördert Flexibilität im Denken und Handeln
  • Ermöglicht Veränderung ohne äußere Umstände zu ändern
  • Unterstützt Selbstverantwortung und Wahlfreiheit
  • Grundlage für viele therapeutische Ansätze (lösungsorientiert, systemisch, hypnotherapeutisch)

Wissenschaftlich:

Zwar ist NLP als Methode nicht empirisch umfassend validiert, die konstruktivistische Grundannahme wird jedoch von vielen modernen Disziplinen (Kognitionswissenschaften, Sozialpsychologie, Systemtheorie) geteilt. Insbesondere die Erkenntnisse der Neurowissenschaften und Embodied Cognition stützen konstruktivistische Sichtweisen.

Kritik oder Einschränkungen

  • Radikaler Konstruktivismus kann als Relativismus missverstanden werden („Alles ist beliebig“).
  • Die Verantwortung für die eigene Wirklichkeitskonstruktion kann überfordernd wirken.
  • Kritiker bemängeln, dass Konstruktivismus zu wenig „Verankerung in der Realität“ bietet – etwa bei realen Gefahren oder objektiven Grenzen.
  • Im NLP fehlt mitunter die differenzierte Reflexion über das erkenntnistheoretische Fundament – viele Anwender nutzen NLP praktisch, ohne die theoretischen Implikationen zu kennen.

Literatur- und Quellenhinweise

  • Bandler, R., & Grinder, J. (1975). The Structure of Magic I. Science and Behavior Books, Palo Alto.
  • Bateson, G. (1972). Steps to an Ecology of Mind. University of Chicago Press, Chicago.
  • Glasersfeld, E. von. (1997). Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme. Suhrkamp.
  • von Foerster, H. (1993). KybernEthik. Merve Verlag.
  • Watzlawick, P. (1976). Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. Piper Verlag.
  • Roth, G. (1990). Das Gehirn und seine Wirklichkeit: Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Suhrkamp.
  • Schmidt, S. J. (Hrsg.). (1987). Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus. Suhrkamp.
  • Kolbeck, C., & Nicolai, A. (1996). Systemisches Denken in Therapie, Beratung und Organisation. Carl-Auer-Systeme Verlag.

Metapher oder Analogie

Die Wirklichkeit ist kein Spiegelbild – sie ist ein Mosaik aus bunten Glasstücken, das jeder Mensch selbst zusammensetzt.

Ein Mensch mit einer farbigen Brille: Alles, was er sieht, ist durch den Filter der Brille eingefärbt. Wer die Farbe der Brille (seine inneren Modelle) verändert, sieht eine andere Welt – obwohl sich „außen“ nichts geändert hat.