Mehrfache Beschreibung (multiple descriptions)
Definition
Die mehrfache Beschreibung ist ein Konzept im NLP, das davon ausgeht, dass ein und dieselbe Erfahrung oder Situation auf unterschiedliche Weise beschrieben und interpretiert werden kann. Jede Beschreibung ist dabei ein Ergebnis subjektiver Wahrnehmung, geprägt durch persönliche Filter (Glaubenssätze, Werte, Erfahrungen, Meta-Programme etc.).
Es gibt keine objektive, „wahre“ Darstellung eines Ereignisses – sondern eine Vielzahl plausibler Perspektiven. Das Ziel mehrfacher Beschreibung ist, mehr Flexibilität in der Wahrnehmung und Kommunikation zu entwickeln, um besser mit sich selbst und anderen in Kontakt treten zu können.
Ursprung und Theoretischer Hintergrund
Die Idee mehrfacher Beschreibung beruht auf konstruktivistischen Annahmen: Wirklichkeit ist nicht „gegeben“, sondern wird vom Individuum konstruiert. Im NLP wurde das Konzept insbesondere durch John Grinder und Judith DeLozier im Buch Turtles All the Way Down (1995 [1987]) systematisch dargestellt.
Es findet zudem Parallelen in der Systemtheorie (z.B. bei Gregory Bateson) und der Kybernetik zweiter Ordnung, in der der Beobachter selbst Teil des beobachteten Systems ist.
Anwendungsbeispiele
- Therapie: Ein traumatisches Ereignis wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt – emotional, rational, dissoziiert – um neue Bedeutungen und Ressourcen zu aktivieren.
- Coaching: Ein Klient beschreibt sein berufliches Problem als „Blockade“. Durch eine andere Beschreibung (z.B. „Schutzmechanismus“, „Wachstumsgrenze“) eröffnen sich neue Lösungswege.
- Konfliktlösung: Zwei Personen haben unterschiedliche Sichtweisen auf denselben Vorfall. Durch Mehrfache Beschreibung kann gegenseitiges Verständnis gefördert werden.
- Führungstraining: Ein Vorgesetzter lernt, seine Kommunikation auf die unterschiedlichen Meta-Programme seiner Mitarbeiter anzupassen – etwa ob jemand nach Ähnlichkeiten oder Unterschieden filtert.
Einsatzbereiche
- Therapie: zur kognitiven Umstrukturierung und Bedeutungswandel
- Coaching: um neue Perspektiven auf Situationen zu ermöglichen
- Führung & Kommunikation: zur Erweiterung der Ausdrucksfähigkeit und Empathie
- Persönlichkeitsentwicklung: zur Reflexion und Neuinterpretation eigener Erfahrungen
- Konfliktmanagement: um mehrere Sichtweisen zu integrieren
- Verhandlungsführung: um sich in die Positionen anderer hineinzuversetzen
Methoden und Übungen
- Wahrnehmungspositionen: Beschreibung desselben Erlebnisses aus der Ich-Perspektive, aus der Sicht der anderen Person (Du-Perspektive) und aus der Meta-Perspektive (Beobachter).
- Assoziiert vs. dissoziiert: Wird die Situation aus der Ich-Position erlebt oder von außen betrachtet? Jede Perspektive erzeugt andere Bedeutungen.
- Reframing: Eine Situation wird in einem neuen Bedeutungsrahmen dargestellt – z.B. aus einem „Fehler“ wird ein „Lernimpuls“.
- Meta-Programme: Verschiedene mentale Filter führen zu unterschiedlichen Beschreibungen – etwa „Weg-von“- vs. „Hin-zu“-Motivation.
- Modell der logischen Ebenen: Eine Situation lässt sich auf mehreren Ebenen beschreiben: Umwelt, Verhalten, Fähigkeiten, Werte, Identität.
- Übung: Beschreibe ein aktuelles Problem aus drei Perspektiven: (1) Wie Du es emotional empfindest, (2) wie eine außenstehende Person es beschreiben würde, (3) was Du aus der Situation lernen könntest.
Synonyme oder verwandte Begriffe
- Perspektivwechsel
- Reframing
- Kognitive Umstrukturierung
- Metakommunikation
- Dekonstruktion (im systemischen Coaching)
Abgrenzung: Während Reframing gezielt eine neue Bedeutung verleiht, ist die mehrfache Beschreibung ein übergeordneter Prozess, der auch widersprüchliche Sichtweisen nebeneinander gelten lässt.
Wissenschaftlicher oder praktischer Nutzen
- Flexibilisierung der Wahrnehmung: Steigerung kognitiver und emotionaler Beweglichkeit
- Erweiterung der Problemlösungsfähigkeit: Neue Bedeutungen ermöglichen neue Lösungen
- Förderung von Empathie und Verständnis: Besonders in Kommunikation und Konfliktklärung
- Reduktion psychischer Starrheit: Starre Selbst- oder Weltbilder werden aufgelockert
- Stärkung von Ressourcen: Die Möglichkeit, sich selbst neu zu sehen, stärkt Selbstwirksamkeit
Beispiel aus der Forschung: Systemisches Denken, narrative Therapie und NLP teilen die Annahme, dass „Realität“ eine sprachlich erzeugte Konstruktion ist – daher sind alternative Beschreibungen therapeutisch wirksam (vgl. Bateson 1981; White & Epston 1990).
Kritik oder Einschränkungen
- Relativismus-Falle: Gefahr, jede Sichtweise als gleichwertig anzusehen, ohne Prioritäten zu setzen
- Verwirrung bei übermäßiger Anwendung: Manche Klienten verlieren bei zu vielen Perspektivwechseln den roten Faden
- Nicht geeignet bei akuten Entscheidungsfragen: Mehrdeutigkeit kann in Situationen, die klare Handlungen erfordern, lähmend wirken
- Missbrauchspotenzial: Manipulative Umdeutungen können Realität verzerren oder bagatellisieren
Literatur- und Quellenhinweise
- Grinder, J., & DeLozier, J. (1995). Turtles all the way down: Prerequisites to personal genius. Meta Publications.
- Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Suhrkamp.
- Dilts, R. (1990). Changing Belief Systems with NLP. Meta Publications, Capitola.
- Bandler, R., & Grinder, J. (1975). The Structure of Magic I & II. Science and Behavior Books, Palo Alto.
- White, M., & Epston, D. (1990). Narrative means to therapeutic ends. Norton.
Metapher
Die Wirklichkeit ist wie ein Berg. Vom Nordhang sieht man Eis, vom Südhang Blumen. Beide sehen den gleichen Berg – aber nicht das Gleiche.