Ur-Credo / Grundüberzeugung / Kern-Glaubenssatz des eigenen Ich-Bewusstseins (Core Belief)
Definition
Das Ur-Credo bezeichnet im Sinne von Wolfgang Bernard ein grundlegendes, frühkindlich entwickeltes Glaubenssystem, das die Basis des Ich-Bewusstseins und der Identitätsstruktur eines Menschen bildet. Es ist die „Wurzel“ oder der „Grundbaustein“ aller weiteren Überzeugungen und Glaubenssysteme und prägt, wie ein Mensch sich selbst, andere und seine Umwelt erlebt. Während die Herausbildung einer trennenden Identität in der Kindheit notwendig ist, kann sie im Erwachsenenalter zur Begrenzung der persönlichen und spirituellen Entwicklung führen. Der Ur-Credo-Prozess ist eine von Bernard entwickelte NLP-Weiterentwicklung, die darauf abzielt, dieses Grund-Belief bewusst zu machen und zu „überschreiten“. Dabei werden Techniken der Dissoziation und Selbstreflexion genutzt, um sich schrittweise von gewohnten Identitätsstrukturen zu lösen und eine tiefere, vorsinnliche Wahrnehmung zu ermöglichen.
Ursprünge und theoretischer Hintergrund
- Entwicklung in der frühen Kindheit: Das Ur-Credo entsteht in der Phase der Ich-Bildung, wenn das Kind lernt, sich von der Umwelt abzugrenzen. Es bildet den psychologischen Kern der Identität.
- NLP-Bezüge: Bernards Ansatz integriert klassische NLP-Techniken wie Dissoziation, Reframing und Ressourcenzugänge mit systemischen, philosophischen und spirituellen Konzepten (z. B. nach Gregory Bateson oder Milton Erickson).
- Trennende Identität: Die Identitätsbildung („Ich bin etwas – und nicht alles“) ermöglicht soziale Orientierung, führt jedoch zugleich zu einem Gefühl der Trennung und Entfremdung vom ursprünglichen Sein.
- Vorsinnliche Wahrnehmung: Ziel des Prozesses ist die Erfahrung eines Zustands jenseits des Ich-Gefühls – einer direkten, ungefilterten Wahrnehmung, in der das Gefühl der Trennung aufgehoben wird.
Anwendungsbeispiele
- Persönlichkeitsentwicklung: Eine Person möchte die Wurzeln ihrer Selbstbilder und „Schattenseiten“ erforschen. Der Ur-Credo-Prozess hilft, unbewusste Glaubensstrukturen zu erkennen und zu transformieren.
- Spiritualität und Sinnsuche: Menschen, die sich mit Fragen des Selbst, des Ursprungs oder der Einheit beschäftigen, nutzen den Prozess, um ein tieferes Verständnis ihres Seins zu erfahren.
- Tiefencoaching oder Therapie: In geschütztem Rahmen assoziiert sich der Klient in belastende Gefühle und fragt: „Auf was in mir wirft mich das zurück?“ Durch diese wiederholte Vertiefung werden Kernüberzeugungen aufgedeckt, die bisher unbewusst das Erleben gesteuert haben.
Einsatzbereiche
- NLP-Seminare und Workshops zur Glaubenssatz- und Core-State-Arbeit
- Tiefenpsychologisch orientiertes Coaching und therapeutische Begleitung
- Spirituelle Entwicklungsprozesse und Selbsterforschung
Methoden und Übungen
- Ur-Credo-Prozess (nach Bernard):
- Negative Erlebnisassoziation: Bewusstes Hineingehen in ein unangenehmes Erlebnis oder Selbstbild.
- Vertiefende Frage: Wiederholte Frage: „Auf was in mir wirft mich das zurück?“ – führt zu immer tieferen Glaubensschichten.
- Dissoziation als Sicherheit: Klassische NLP-Techniken (z. B. Dissoziation, Ressourcenanker) stabilisieren den Prozess.
- Auflösung der Identitätsschichten: Durch das Erkennen der Wurzelüberzeugung kann eine Transformation und eine vorsinnliche Wahrnehmung entstehen.
- Vorsinnliche Wahrnehmung:
- Loslassen des inneren Kommentators, um das Erleben ungefiltert zuzulassen.
- Regelmäßige Ökologiechecks zur Wahrung psychischer Stabilität.
Synonyme oder verwandte Begriffe
- Grundlegendes Belief-System
- Kernüberzeugung (Core Belief)
- Ursprungsglauben
- Trennende Identität
Abgrenzung
Das Ur-Credo unterscheidet sich von herkömmlicher Glaubenssatzarbeit dadurch, dass es nicht auf einzelne Überzeugungen zielt, sondern auf die Grundstruktur aller Überzeugungen. Während klassische NLP-Techniken oft schnelle Verhaltensveränderungen anstreben, führt die Arbeit mit dem Ur-Credo zu einem tiefgreifenden Prozess der Identitätsauflösung und Selbsterweiterung.
Wissenschaftlicher oder praktischer Nutzen
- Individuell: Fördert tiefgreifende Selbsterkenntnis und ein erweitertes Bewusstsein für die eigene Identitätsstruktur.
- Praktisch: Verbindet NLP-Methodik mit existenziellen und spirituellen Entwicklungswegen.
- Wissenschaftlich: Integriert systemisch-konstruktivistische und transpersonale Ansätze (nach Bateson, Wilber) und erweitert die klassische NLP-Praxis um spirituelle Dimensionen.
Kritik oder Einschränkungen
- Emotionale Tiefe: Der Prozess kann intensive Gefühle auslösen und sollte nur mit professioneller Begleitung durchgeführt werden.
- Voraussetzung von Stabilität: Nicht für Personen mit schweren Traumata oder psychischen Erkrankungen geeignet.
- Subjektivität: Spirituelle oder metaphysische Aspekte (z. B. „vorsinnliche Wahrnehmung“) sind nicht empirisch überprüfbar.
Literatur- und Quellenhinweise
- Bernard, W. (1996). In sich hinausgehen – Mit NLP zum Ur-Credo. VAK Verlag, Göttingen.
- Andreas, C. & Andreas, T. (1994). Core Transformation: Reaching the Wellspring of Being. Real People Press.
- Bateson, G. (1972). Steps to an Ecology of Mind. University of Chicago Press, Chicago.
- Wilber, K. (1977/1987). The Spectrum of Consciousness. Shambhala Publications, Boulder.
Metapher oder Analogie
Das Ur-Credo ist wie ein Kieselstein auf dem Grund eines klaren Sees:
Die Oberfläche (die Identität) erscheint ruhig oder bewegt – doch der unsichtbare Kiesel am Grund beeinflusst alles. Wenn man hinabtaucht und den Kiesel erkennt oder bewegt, kann sich die gesamte Dynamik des Wassers verändern – so wie das Erkennen des Ur-Credos das Selbstverständnis grundlegend wandelt.